„Nur eine traurige Erinnerung?“
Von Malgorzata Gersdorf, Präsidentin des Obersten Gerichts der Republik Polen
Polen ist noch eine junge Demokratie. Als eines der schwächsten Glieder in der Kette der europäischen Nationen dient das Land heute zugleich als ein Lackmustest für den Zustand der ganzen Europäischen Union. Ich könnte einen ausführlichen Exkurs in die vergangenen 200 Jahre polnischer Geschichte machen, die einen Schatten auf den gegenwärtigen Streit in meinem Land wirft. Jedoch glaube ich, dass derlei Ausführungen wenig Sinn ergeben, weil es in der Seele eines jeden Landes düstere Winkel gibt.
Der Demokratisierungsprozess wurde in Polen weder genügend debattiert noch von einer breiten Bildungskampagne begleitet. Niemand hat den Bürgern erklärt, wie die Gesetze funktionieren und warum sie befolgt werden müssen. Im Gegenteil: Das Recht galt in Polen oft als ein Hindernis auf dem Weg einer schnelleren Modernisierung des Staates, ein Hindernis, über welches man sich nicht allzu viele Gedanken machen müsse. Denn es zähle einzig das Endergebnis: der gestiegene Wohlstand des Staates und der Bürger. Es galt bereits als eine große und nachhaltige Errungenschaft, Polen mit den politischen Strukturen des Westens bekannt zu machen. Dabei galt die oberflächliche Aufmerksamkeit nicht den grundlegenden Strukturen, sondern eher verschiedenen Kennziffern, die sich langfristig unweigerlich verändern würden.
Vielleicht fragt jemand an dieser Stelle – und solche Fragen hat es tatsächlich gegeben – ob es nicht ein Fehler gewesen sei, Polen in die Europäische Union aufzunehmen. Ganz und gar nicht! Die vergangenen 14 Jahre der polnischen Mitgliedschaft in der EU waren eine enorm lehrreiche und positive Erfahrung. Lehrreich sind für uns auch die jetzigen Umstände in Polen. Wir haben begriffen, dass ein Rechtsstaat kein Zustand ist, den man erreicht, sondern ein Ideal, das man kontinuierlich anstreben muss.
Wir sollten uns nichts vormachen lassen: Auch in einigen augenscheinlich stabilen Ländern mit altehrwürdigen Demokratien beobachtet man heute nihilistische Einstellungen, politischen Extremismus und die Missachtung von Gesetzen. Der einzige Unterschied ist vielleicht nur das Ausmaß solcher Phänomene. Sie treten verstärkt hervor in Zeiten der sozialen und wirtschaftlichen Krise, die wir seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt haben.
Die Juristen in Polen können kein Stillschweigen bewahren über den immensen Schaden, der durch die Gesetzgebung der vergangenen zwei Jahre dem Rechtssystem des Landes zugefügt worden ist. Dieser Schaden ist leider gewaltig, die Hoffnung auf eine Besserung in der nächsten Zukunft ist gering. Die Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts ist vernichtet, seine Richtergremien wurden manipuliert als Reaktion auf die Erwartungen der regierenden Partei. Der Justizminister übt zugleich auch die Funktion des Generalstaatsanwalts aus.
In seinen Händen hält er nun alle notwendigen Instrumente zur Beeinflussung jeglicher juristischer Vorgänge im Land, insbesondere im Bereich des Strafrechts. Die Präsidenten des Gerichts sind ihm gegenüber auskunftspflichtig. Und als wäre dies nicht schon schlimm genug, hat der Justizminister noch mehr als die Hälfte der Sitze im Landesjustizrat mit Personen ohne konstitutionelle Mandate besetzt, die ihm persönlich zu Dank verpflichtet sind. Die Parteimaschine kann je nach Lust und Laune der Regierenden jeden in Polen auf den Thron heben wie auch jeden vernichten. Im Obersten Gericht hat eine Säuberung stattgefunden, die als eine nachträgliche Änderung der Regelung zum Pensionsalter maskiert ist. Der Inhalt der wesentlichen Gesetzgebung über die Rechtsstaatlichkeit wird fortwährend verändert, oft in einem Zeitraum von nur wenigen Tagen bis zu den Entscheidungen und ohne dass dabei jemand zur Beratung und fachlichen Bewertung hinzugezogen wird.
Was kann die Präsidentin einer obersten rechtlichen Instanz tun, wenn jemand versucht, ihre verfassungsmäßige Amtszeit illegal zu beenden? Das Einzige, was ihr bleibt, ist es, die Dinge beim Namen zu nennen. Sie kann nicht unpolitisch sein, wenn die Einhaltung der Verfassung zu einer politischen Angelegenheit schlechthin geworden ist. So sind die Bedingungen heute in Polen, und ich hoffe, dass es nicht morgen in Deutschland so aussehen wird!
Als polnische Richterin möchte ich diese Gelegenheit für einen Appell für mehr Europa in Europa nutzen. Wir sind der EU-Kommission und insbesondere deren Ersten Vize-Präsidenten Frans Timmermans sehr dankbar dafür, dass er die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit so leidenschaftlich verteidigt. Und dennoch ist das Mandat der Europäischen Institutionen heute entschieden zu schwach, besonders in Anbetracht der autoritären und nationalistischen Entwicklungen, die wir leider erleben, auf dem Gebiet der Europäischen Union, aber auch jenseits ihrer Grenzen.
Mir ist wohl bewusst, dass einige Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten – zu denen ich Deutschland nicht zähle – offensichtlich dazu geneigt sind, die sogenannte Reform der polnischen Justiz als eine interne Angelegenheit zu sehen, in die man sich von außen nicht zu exzessiv einmischen sollte. Dennoch hat sie für uns eine hohe Priorität, die auch für unsere gemeinsame Zukunft bedeutsam ist! Sollten die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten die getroffene Regelung in diesem Konflikt so durchgehen lassen, könnte von dem Markenzeichen der Union – nämlich, der Achtung von Grund- und Menschenrechten – bald nur noch eine traurige Erinnerung zurückbleiben.
Wir brauchen einander. Darum möchte ich diese Chance auch dazu nutzen, um die Organisation eines paneuropäischen Juristenkongresses vorzuschlagen, bei dem wir mehr übereinander erfahren und die Zukunft der Gesetzgebung in einem auf den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit basierenden Europa diskutieren könnten. Die Europäische Union gründet auf der Stärke ihrer Bürger, sie sollte nicht den Politikern alleine überlassen werden.
Der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer sagte einmal einen Satz, der für mich eine ganz besondere Bedeutung hat: „Die Weltgeschichte ist auch die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre“. An dieser schwierigen geschichtlichen Wegscheide tragen wir, die europäischen Richter und Anwälte, eine einzigartige Verantwortung. Lassen wir es nicht dazu kommen, dass die üblen populistischen Kräfte die wunderbare europäische Idee zerstören. Wenn wir uns geschlagen geben, werden unsere Kinder und Enkelkinder es uns vielleicht niemals vergeben. Lassen Sie uns alle zu Anwälten des Rechtsstaats werden: So lautet meine Botschaft an meine deutschen Freunde, eine Botschaft aus dem Nachbarland.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Badischen Neuesten Nachrichten.
Es handelt sich um die von den Badischen Neuesten Nachrichten gemachte Übersetzung der englischen Originalfassung.