Karlsruhe: Stadtgeschichte
Blick in die Geschichte Nr. 77 vom 21. Dezember 2007: Der Karlsruher Fächergrundriss
Verborgene Geometrie
Der Wegestern für die Jagd Die Forscher indessen waren sich bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts darin einig, dass der Fächergrundriss von Karlsruhe nicht auf eine städtebauliche Idee zurückgehe, sondern auf ein Wegenetz im Hardtwald, das man für die Jagd angelegt habe. Machen wir uns also einschlägige Literatur zunutze und nehmen ein im Barock weit verbreitetes Buch zur Hand: "Neueröffnete Jäger-Practica, Oder der wohlgeübte und erfahrne Jäger" von Heinrich Wilhelm Döbel, ein Text- und Tafelband, der, wie wir wissen, auch zur Durlacher Hofbibliothek gehört hat. Darin erscheint vor allem das Kapitel über "die Verfertigung der Alleen, besonders zu einer achteckichten Stern-Allee" beachtenswert. Die Stern-Allee, nachfolgend meist Wegestern genannt, strahlt von einer zentral gelegenen Freifläche aus und dient der Einteilung von Wildparks und Tiergärten für die Jagd; Herrschaft und Jäger konnten so auf kürzestem Wege zum Ausgangspunkt zurückfinden. Dort stand gewöhnlich ein Jagdhaus oder ein kleines Schloss, eine Favorite ? in Karlsruhe wird es ein Jagdturm sein.
Immerhin lässt Döbel den Leser mit seiner ausführlichen Beschreibung nicht allein. Er legt eine Zeichnung bei, die veranschaulicht, wie ein Jagdrevier eingerichtet werden soll ? und tatsächlich sind auf diesem Blatt sämtliche geometrischen Grundelemente für den Karlsruher Fächergrundriss zu erkennen. Zentrum des von einem kreisförmigen Weg umgrenzten Reviers ist die Kreuzung von zwei Hauptwegen in ostwestlicher und nordsüdlicher Richtung, die nach Döbel "rechtwinkelicht über einander lauffen." Der Kreuzungspunkt dominiert als Mitte einen acht-strahligen Wegestern, wobei Döbel zusätzlich die Richtungen für 16 Strahlen anzeigt. Diese Figur ergäbe, noch einmal verdoppelt, den aus 32 Strahlen bestehenden Karlsruher Wegestern! Daneben empfiehlt Döbel als Radius für den Kreisweg die Länge von "600, 700 oder 800 Schritten (wie es von dem Herrn befohlen wird)" - und der Radius des Zirkels in Karlsruhe beträgt sehr genau 600 Schritte!
Ein Raster als Maßgabe
Selbstverständlich vergaß Döbel nicht, dass der Wegestern genau vermessen und ausgeführt werden muss, und ergänzte daher sein geometrisches Schaubild durch ein Gitter aus quadratischen Einheiten gleicher Größe, anders gesagt, durch einen rechtwinkligen Raster. Wollen wir diesen Raster auf den Karlsruher Fächergrundriss übertragen, so bietet sich deutlich der südöstliche Sektor in Döbels Zeichnung an. In den beiden Ost-West und Nord-Süd verlaufenden Hauptwegen der kreisförmigen Anlage, die im Norden und Westen diesen Ausschnitt begrenzen, erblicken wir die heutige Richard-Willstätter-Allee - der Zugang von Rintheim her in das Jagdgebiet - und die vom Schlossturm ausgehende "Schlossachse" in der Linie der späteren Karl-Friedrich-Straße. Der Kreuzungspunkt der beiden Achsen wäre der Standort des Schlossturms. Weiter beziehen wir die Landstraße von Durlach über Gottesaue nach Mühlburg als südliche Begrenzung in den Raster mit ein, die spätere Lange Straße und heutige Kaiserstraße. Jetzt geht es darum, zu prüfen, ob dieser Raster wirklich zu den örtlichen Gegebenheiten passt.
Vorab allerdings müssen wir klären, wie viele Rasterlinien es sind und wie groß die quadratische Einheit des Rasters ist. Um weiterzukommen, schauen wir uns am besten die Schlossachse in dem hier gezeigten Plan von 1718 etwas genauer an. Zwischen mehreren markanten Stellen fällt jeweils eine Strecke vermutlich gleicher Länge auf: zwischen Schlossturm, südlicher Grenze des Ehrenhofs vor dem Schloss, Bassin mit Brunnen, Straße am Schlossplatz und Kaiserstraße. Nehmen wir diese vier Strecken mit dem Durlacher Fuß (0,288 m) als Maß unter die Lupe, so wird unsere Ahnung zur Gewissheit: Die Schlossachse ist in vier gleiche Abschnitte geteilt; wir können in Ost-West-Richtung ? die Richard-Willstätter-Allee und die Kaiserstraße als nördliche und südliche Grenzlinien verstanden ? fünf Rasterlinien in vier gleichen Abständen verzeichnen, und der Abstand der Linien ist zugleich das gesuchte Maß der quadratischen Einheit des Rasters. Ein solcher Raster wird übrigens schon seit jeher eingesetzt, ist als Hilfe willkommen, um Grundrisse und Fassaden von Gebäuden zu ordnen, nicht weniger bei der Planung von Stadt- und Klosteranlagen, ja sogar beim Anfertigen von Bildwerken - schon der Erstklässler will auf sein kariertes Schulheft nicht verzichten.
Zur Planung und Ausführung
Wie wir sehen, reichen aber die in Döbels Blatt eingetragenen Ost-West gerichteten Rasterlinien über den Kreisweg hinaus. Mit der Verlängerung nach Osten und der vertikalen Umgrenzung kann die Figur eines lagernden Rechtecks entstehen, und die Stadtpläne aus den ersten Jahren von Karlsruhe erlauben eine solche Verlängerung ausnahmslos. In all diesen Plänen sehen wir zusätzlich die Gegend östlich des Zirkels abgebildet, und zwar bis einschließlich der Abknickung der Landstraße nach Mühlburg. Eine Erklärung hierfür liegt nahe: Markgraf Carl Wilhelm und sein für den Städtebau verantwortlicher Planer Johann Friedrich von Bazendorff hatten sich darauf verständigt, die vorhandene Landstraße als Basislinie in den Fächergrundriss einzubauen. Zu diesem Zweck war natürlich nur der gerade Straßenabschnitt westlich der besagten Abknickung geeignet. Misst man wiederum von dort ab die Länge der Landstraße bis zum Schnittpunkt mit der Schlossachse, so ergibt die Strecke genau sieben Einheiten. Die Stelle, wo die Landstraße abknickt, und das Maß von sieben Einheiten haben demnach die östliche und die westliche vertikale Grenzlinie des Rasters bestimmt und damit dessen Größe; der nordwestliche Eckpunkt des Rasters freilich bezeichnet den Mittelpunkt der Gesamtanlage, ist später der Standort des Turms. Namentlich haben wir jetzt die zwei zu Beginn aufgeworfenen Hauptfragen, die nach der Lage des Turms und des Wegesterns, bündig beantwortet.
Vollständig stellt die rechteckige Form des Rasters also ein Seitenverhältnis von 4 : 7 Rastereinheiten dar, was sich auch anhand späterer historischer Karlsruher Stadtpläne beweisen lässt, selbst am derzeitigen Plan der Stadt. Und wie wenn es noch einer Nachhilfe bedurft hätte: Die Entfernung in der Richard-Willstätter-Allee zwischen Schlossturm und Mittelachse der Jagdhausanlage, dem späteren Fasanenschlösschen, beträgt fünf ganze Einheiten. Dies könnte ein Fingerzeig darauf sein, dass der Raster und möglicherweise auch der Entwurf für Karlsruhe selbst 1714 zustande gekommen sind, denn das Jagdhaus war zu dieser Zeit schon im Bau.
Für von Bazendorff aber war es nun ein Leichtes, den beschriebenen Raster auf das ganze geplante Revier auszuweiten und darin den Wegestern samt Zirkel lückenlos einzuzeichnen. Wie die Wissenschaft nachgewiesen hat, war jedoch das Seitenverhältnis 4 : 7 gemeinhin schon in der Frühzeit und über das Mittelalter hinweg bis in das Barock die bevorzugte Proportion für ein Rechteck, denn ein solches Rechteck lässt sich ganz einfach aus einem gleichseitigen Dreieck konstruieren und im Gelände vermessen.
Nachzutragen ist noch, dass der Geometrie, die Vermessung eingeschlossen, seit der Antike und noch in der Anfangszeit von Karlsruhe hohe Bedeutung zukam, vonseiten der Künste wie der Bau- und Stadtbaukunst und vonseiten der Theologie und Philosophie ? noch ein Lehrbuch über die Messkunst von 1706 beruft sich auf keinen Geringeren als Platon. Doch bekanntlich war das Barock gleichermaßen die Zeit geheimer Lehren. So dürfen die Zahlen 4 und 7 überdies symbolisch gesehen werden. Nicht von ungefähr verwahrte die Durlacher Hofbibliothek einschlägige Traktate zur Kabbala, Geomantie, Freimaurerei wie zur Alchemie, der nachweislich das ausgemachte Interesse des Markgrafen gegolten hat.
Schlussbemerkungen
Fassen wir das Ergebnis unserer Nachforschungen zusammen. Dem Karlsruher Fächergrundriss ging eine Jagdanlage in Form eines 32-strahligen Wegesterns voraus. Schon 1714 hatte von Bazendorff diese Figur gezeichnet über einem aus der Topografie entwickelten geometrischen Raster, der allerdings im fertigen Stadtplan nicht zu sehen ist. Mittelpunkt des Wegesterns war der nordwestliche Eckpunkt des Rasters, der spätere Platz des Jagdturms. Erst ab Mitte 1715 kam es dann zum Ausbau der Anlage mit Turm, Schloss und Wohnbebauung als fürstlichem Sommersitz und schließlich 1718 als Residenz.
Zuletzt können noch einige Detailbeobachtungen bestätigen, dass unsere Annahmen für den Raster zutreffen. Verwundert mag der Betrachter beim ersten Blick auf den Stadtplan von Bazendorffs bemerken, dass die zahlreichen kleinen Einbauten in der Richard-Willstätter-Allee sich nicht genau in den vorgegebenen Raster einordnen lassen. Die rekonstruierte Geometrie hingegen zeigt, dass ihre Standorte durch Schnittlinien bestimmt sind, die von Kreuzungen im Raster selbst ausgehen und durchweg in der Mitte des nördlichen Zirkels am Jägerhaus münden, und weitere Schnittlinien geben präzise die Knoten für das Wegenetz im Schlossgarten an ? die der Karlsruher Geometrie unterlegte esoterische Bedeutung andererseits, von der wir kurz gesprochen haben, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.
Dr. Gottfried Leiber, Stadtoberbaudirektor a.D.
Erschließung des Waldes durch einen Wegestern mit acht Alleen. H. W. Döbel, Neueröffnete Jäger-Practica, T. II, Taf. p. 10.
Grundriss von Karlsruhe, J. F. von Bazendorff 1718, Ausschnitt, Kunsthalle Karlsruhe, Kupferstichkabinett 154 (Ergänzungen Raster und Schnittlinien v. Verf.).
Stadtplan karlsruhe mit dem Entwurfsraster für den Grundriss der ersten Karlsruher Gesamtanlage. Planvorlage: Stadt Karlsruhe, Vermessung. Liegenschaften, Wohnen 2005.